:Zoviet France

Lesedauer ca. 11 Minuten :Zoviet France war gegen Ende der 1980er Jahre eines der Projekte, die mich am meisten begeisterten – und es war ziemlich schwierig, an ihre Veröffentlichungen zu kommen. Das machte sie umso begehrenswerter … Erschienen 1992 in Bad Alchemy #20.

:ZOVIET FRANCE gehören zu den »INDUSTRIAL«-Gruppen der zweiten Generation; im zwölften Jahr ihres Bestehens haben sie bisher 17 Long-Player vorgelegt, wobei die Spieldauer der einzelnen Platten und Cassetten zwischen 20 Minuten und knapp drei Stunden schwankt; die meist handgemachten Cover und Verpackungen suchen ihresgleichen, ebenso der bizzarre Charme, den die Musik von :ZOVIET FRANCE enthält. Sie sind wahre Meister im Kultivieren eines Primitivismus, der nichts mit Dilettantismus, aber viel mit der Urbarmachung defekten Equipments für ihre Vorstellungen von zeitgemäßer Musik zu tun hat. Eine kleine Anthologie:

1981

»in 1981, three musicians came together to find a music that none of us had previously known – an ‚unknown music‘. we rejected all of the conventional musical knowledge we had acquired up to that point and began working, on an improvisational basis, to achieve this. in doing so, we also moved away from relying on ready-made instruments and began making our own or using objects not normally regarded as musical instruments. we realised that sound was the real instrument we wanted to use, and therefore virtually anything could be adapted to this purpose.
once we realised that we were dealing principally with the manipulation of sound, it became obvious to us that sound reproducing equipment could also be exploited. we became particularly interested in the qualities of things like damaged microphones, malfunctioning tape recorders, distorted loudspeakers and poor quality tape. all of this became the foundation upon which the music we had discovered has been built. discovering music is the best way to describe what we do.«

Ben Ponton / :Zoviet France

1982–1984

Die ersten Entdeckungen werden 1982 veröffentlicht: GARISTA, eine C-40, ist in Stoff verpackt, der nicht gerade gut riecht. Die Musik setzt sich aus größtenteils unausgegorenen Experimenten mit defektem Equipment und Stimme zusammen, es wird viel gelacht …

Im gleichen Jahr folgt eine EP ohne Titel, verpackt in einer handbedruckten Jute-Tasche. Hier gehen :ZOVIET FRANCE schon um einiges disziplinierter an die Sache ran: hatte GARISTA doch eher das Flair eines Pennälerstreichs (von denen es in der Cassettenszene leider nur so wimmelt), zeigt UNTITLED erste Anzeichen kommender Meisterwerke. Veröffentlicht wird die 12″ von RED RHINO RECORDS, die auch die kommenden LPs von :ZOVIET FRANCE veröffentlichen werden (bis zur Label- und Vertriebspleite 1988).

NORSCH, die nächste EP, kommt 1983 in einer dünnen Metallfolie auf den Markt. Das besondere dieser Verpackung ist, dass es sich nicht mehr um eine »Tasche« im herkömmlichen Sinne handelt: die gefaltete Folie ist kein geschlossenes System, der Tonträger, den sie schützen soll, ist leicht zu beschädigen; der Fetisch wird verwundbar, die Musik komplexer und unerklärlicher:

»because of the high degree of chaos (in a scientific sense) that we encourage, it’s usually impossible to predict the results when we embark on a new work… the only really conscious role we adopt in this situation is the subsequent editing of the material…
initially (and this still predominates today), we felt some kind of amazement, and even shock, at what we were producing. although obviously music, rather than audio experiments or anti music, we knew that a lot of what we were creating was outside of any conceptual arena we had come across – we had found ‚unknown music‘.«

Ben Ponton / :Zoviet France

Ebenfalls 1983 erscheint die meiner Meinung nach beste und wichtigste LP im Oeuvre von :ZOVIET FRANCE: MOHNOMISHE besteht aus 2 LPs, die zwischen zwei handbedruckten Holzplatten liegen; es gibt keine Informationen zu den einzelnen Stücken (die allesamt keine Titel haben), doch dieser Informationsarmut steht auf der anderen Seite eine ungeheure Fülle an Sounds, Ideen, Stimmungen gegenüber, die MOHNOMISHE zu einem Klassiker der »INDUSTRIAL«-/»NOISE«-Szene schlechthin machen. Die Stücke pendeln zwischen dumpf-wabernden Sounds, rhythmisch-perkussiven oder stark elektronisch geprägten Songstrukturen, die ganze DoLP kann am Stück gehört werden, kein einziger Ausfall! Leider wird MOHNOMISHE nicht mehr als LP wiederveröffentlicht, findet sich doch auf der ersten Seite eine der gelungensten Endlosrillen überhaupt.

EOSTRE, der Nachfolger von 1984, ist ebenfalls eine DoLP und kommt wie der Zwilling zu MOHNOMISHE daher: schon der Titel ist wiederum eine Anspielung (MOHNOMISCHE = MONO, EOSTRE = STEREO) auf einen HiFi-Begriff (oder besser: die Abkehr von HiFi in den Plattentiteln, wie sie sich ja auch in der Arbeitsweise mit defektem Equipment, s.o., finden läßt). Die Verpackung ist wiederum aufwendig: die LPs liegen zwischen PVC-Platten, mit handbedrucktem Papier umwickelt. EOSTRE hat hervorragende musikalische Momente, wirkt aber in sich nicht so geschlossen wie MOHNOMISHE und scheint eher aus einer Aneinanderreihung von Songs zu bestehen, als dass ein durchgehendes Konzept zu erkennen wäre.

1985

Wenn es denn Phasen im Werk von :ZOVIET FRANCE gibt, markiert dieses Jahr das Ende der ersten: POPULAR SOVIET SONGS AND YOUTH MUSIC, zwei C-90 in einer getöpferten Box (in der eine Vogelfeder aus Englands radioaktiv verseuchtester Region steckt), ist trotz seiner knapp drei Stunden Spieldauer mehr als nur Resteverwertung (und soll noch in diesem Jahr von SILENT RECORDS als 3CD-Box wiederveröffentlicht werden).

GRIS, eine 10″ in gefalteter Dachpappe, dürfte bis heute der Mega-Seller von :ZOVIET FRANCE sein, und das zu Recht: die Stücke sind phantastisch, mal rhythmisch, mal sphärisch, und der einzige Mangel, der dieser Scheibe von fast allen, die über sie geschrieben haben, zur Last gelegt wird, ist, dass sie zu kurz ist (leider, leider, aber auch GRIS soll in diesem Jahr wieder nachgepresst werden, und zwar im Original-Dachpappen-Cover; die geplante CD-Wiederveröffentlichung wird zusätzliches Material enthalten).

Inzwischen haben die :ZOVIET FRANCE-Produkte längst Kult-Status erreicht, wobei der maßgebliche Faktor wohl die Verpackungen gewesen sein dürften:

»to reinforce this sense of dislocation, we decided that the mass-produced product should also incorporate a dislocated element in its manufacture. so, we have used a number of different materials for the packaging of the records – hessian, hardboard, aluminium, roofing felt – which give a visible and tangible presence to the abstraction of the music they contain.«

Ben Ponton / :Zoviet France

1986–1988

»Listen to the sound of the human heartbeat« – mit diesen Worten beginnt MISFITS, LOONY TUNES AND SQUALID CRIMINALS, Teil 1 (von 7 geplanten) der Serie CHARM, CEREMONY, CHANCE, PROPHECY – es wurden noch drei weitere veröffentlicht: GESTURE, SIGNAL, THREAT (C-40), A FLOCK OF ROTATIONS (LP) und ASSAULT AND MIRAGE (C-40); MISFITS (LP) und GESTURE erschienen 1986, ROTATIONS und ASSAULT 1987.

Trotz exquisiten Stylings der LPs (Falt-Inlet in Pergamenthülle) und MCs (Kartonbox in Pergamenthülle) wurde dieser Zyklus (= CCCP) nicht gerade euphorisch aufgenommen (von Seiten der Hörer): die Sounds besitzen nur ansatzweise den Charme und die Schönheit der Stücke auf MOHNOMISHE oder GRIS, sind im Gegenteil oft von einer erschreckenden Hässlichkeit und Abgehacktheit, tendieren eher zum puren Lärm hin, als dass sie Stimmungen wie auf den früheren Platten zu erzeugen vermöchten – dennoch: gerade A FLOCK OF ROTATIONS ist mit seinen Schreien, zerfetzten Gitarrenklängen und rückwärtslaufenden Tapes mehr als der Versuch, die Ambient-Elemente in der Musik von :ZOVIET FRANCE etwas zurückzustutzen, oder: mit abstrakteren Sounds direktere Statements als auf früheren Platten abzugeben.

»we do incorporate some of our own philosophies and political beliefs into the music, but they are buried deeply within it. since we don’t use song structures, there are no lyrics to carry these ideas in any case, the music could be interpreted as political or social in itself. anything which challenges conventional wisdom, which we believe our music does, must inherently be political. beyond that, we often do quite deliberately incorporate elements that are more overtly political, but still subtle and indirect, such as the voice chanting in ‚Norsch Tauss‘ on the NORSCH-LP, which is a recording of an argentinian soldier saluting his national flag at Port Stanley in the Falkland Islands (NORSCH was released shortly after the Falklands War). of course, such an inclusion is ambiguous, making no direct statement about our view of the war, but in such a case we don’t want to be interpreters. interpretation is for the listener. we do not wish to present any kind of analysis. the road of analysis is paved with conclusions.«

Ben Ponton / :Zoviet France

1987 erscheint ebenfalls eine C-90 mit zwei Jahre älterem Material, LOHLAND, die immer noch erhältlich ist, demnächst aber auch als CD wiederveröffentlicht werden soll (LOHLAND ist Teil der »Documentatie«-Serie des holländischen STAALTAPE-Labels – HOLLAND = LOHLAND).

1988 endet die (mögliche) zweite Phase im Werk von :ZOVIET FRANCE: SHOUTING AT THE GROUND wird als DoLP/CD in gewöhnlichen, wenn auch mit herrlichen Photos versehenen Covern veröffentlicht und ist gleichzeitig eine der letzten RED RHINO-Produktionen, da diese kurz darauf Konkurs anmelden (was zwar schön für denjenigen war, der SHOUTING und andere :ZOVIET FRANCE-Platten nun zu Spottpreisen bekam, aber schlecht für die Zauderer, denn der Ausverkauf führte logischerweise kurze Zeit später zur Vergriffenheit bzw. zum Preiswucher, was gerade die ausgefallenen :ZOVIET FRANCE-Scheiben betraf). SHOUTING AT THE GROUND ist eine auffallend ruhige, sehr ambient-lastige LP mit wunderschönen, (aber nur) fast new-age-mäßigen Stücken, die klingen, als wären :ZOVIET FRANCE soeben von einer Asienreise zurückgekehrt. Ich hätte mir keinen besseren Schlußstrich unter das Werk dieser Gruppe vorstellen können – und eine ganze Zeit lang sah es so aus, als ob es das auch gewesen wäre …

»we strongly believe that, particularly in ‚developed countries‘, people’s perception and understanding of music has become critically atrophied, as it probably has done in all art forms.
we would admit that to be true of ourselves too, although we think we have succeeded in going some way towards escaping from it.«

Ben Ponton / :Zoviet France

1990+

1990 meldeten sich :ZOVIET FRANCE wieder zurück, und zwar gleich mit zwei Produktionen: LOOK INTO ME, LP+12″ bzw. CD, knüpft an die alten Scheiben wie SHOUTING nahtlos an; JUST AN ILLUSION, CD-only, ist in einer schönen Holzbox verpackt und besitzt etwas von dem Flair, das die früheren Verpackungen von :ZOVIET FRANCE-Produkten hatten, aber: das musikalische Material wirkt zerfahren, unausgegoren und beliebig, die anfängliche Euphorie (meinerseits) legt sich doch ziemlich schnell wieder, :ZOVIET FRANCE fallen zurück auf das Niveau von GARISTA, und das zehn Jahre später, von Entwicklung oder Fortschritt ist wenig zu merken – »or is it all just an illusion?«.

Erfreulicher ist zu diesem Zeitpunkt die Tatsache, dass :ZOVIET FRANCE sukzessive ihren Backkatalog wiederveröffentlichen – auf CD, und ursprünglich auch im Originalformat und der Originalverpackung. GARISTA wird als MC (Stoffverpackung), LP und CD wiederveröffentlicht, UNTITLED als LP (in handbedrucktem Jutecover!) und CD, NORSCH, MOHNOMISHE und EOSTRE bleiben allerdings reine CD-Wiederveröffentlichungen: die Käufer ziehen die langweiligen (die Verpackung betreffend: natürlich die Standard-CD-Plastikschachtel!) CD-Wiederveröffentlichungen den LPs vor, die GARISTA-Cassettenveröffentlichung erweist sich als (finanzieller) Schuss in den Ofen.

1991 folgen die CD-only-Veröffentlichungen SHADOW, THIEF OF THE SUN (neben einigen sehr »elektroakustischen« Einsprengseln klingt SHADOW in etwa wie SHOUTING AT THE GROUND, was ich persönlich gar nicht so schlecht finde – vergleiche die Rezension von FRANS DE WAARD in SIAM Vol.4/#2 …) und VIENNA 1990. VIENNA dokumentiert eine neue Phase im Schaffen von :ZOVIET FRANCE: gab es früher schon Performances im Umfeld der Gruppe, so waren :ZOVIET FRANCE doch immer eine Studio-Band – inzwischen haben sie eine Amerika- und eine Europa-Tournee hinter sich, und für 1992 sind weitere Auftritte in Europa geplant; auf VIENNA finden sich Mitschnitte von zwei Live-Auftritten in Wien (»OHRENSCHRAUBEN«-Festival im Dezember 1990), die belegen, dass :ZOVIET FRANCE-Musik auch live ihren Zauber entfalten kann. Überhaupt gehen :ZOVIET FRANCE ihren Weg konsequent weiter:

»we don’t attempt to express emotions, but try to generate them. but since individual responses to our music are subjective experiences, and should remain so, we’re reluctant to define too closely what they should be. so i think the most we can say is that the initial response should be that of dislocation and disorientation.
music has the ability to act as a transmitter of otherwise inexpressable emotions and experiences. we ourselves understand this very clearly, which is why we choose to work in a very aleatoric way.«

Ben Ponton / :Zoviet France

Nachträge:

Ebenfalls auf CHARRM veröffentlicht:
THE HAFLER TRIO: »THREE WAYS OF SAYING TWO –THE NETHERLAND LECTURES« (CHARRM 3, 1986); meines Wissens nach einzige Nicht-:ZOVIET FRANCE-LP auf CHARRM.

Geplante Wiederveröffentlichungen:
GRIS (als 10″/0riginalcover und CD/Bonustracks; RECOMMENDED NO MAN’S LAND)
UNPOPULAR SOVIET SONGS AND YOUTH MUSIC (3CD-Box; SILENT RECORDS USA)
LOHLAND (CD; STAALTAPE NL)

Neue Veröffentlichungen:
auf MUTE/THE GREY AREA eine CD-Zusammenstellung der Sampler-Beiträge von :ZOVIET FRANCE (s.o.); auf E’OSTRATE (F) eine Cassette; auf BAROONI (NL) eine CD; auf SOLEILMOON (USA) vier Stunden Musik auf DAT (?!); diverse Samplerbeiträge …


Ursprünglich erschienen in Bad Alchemy #20, 1992.
Bad Alchemy Website …

Cover Bad Alchemy #22 (Rück- und Vorderseite)

Anm.: Die Rechtschreibung wurde minimal angepasst, die teilweise übernommenen Abbildungen in der harten S/W-Ästhetik des Fanzines sind den Veröffentlichungen entlehnt.

Zum genaueren Überblick empfehle ich einen Besuch der Discogs-Seite bzw. der Facebook-Seite von :Zoviet France

Die Interview-Passagen stammen aus einem Briefwechsel mit Ben Ponton, ca. 1987/88 – als ich den Artikel dann 1992 endlich schrieb, Jahre später, fragte ich ihn, wiederum per Brief, ob er etwas ergänzen oder ändern möchte an seinen Aussagen. Er schrieb zurück, dass er schockiert war beim Lesen – so offen und klar hätten sie eigentlich nie auf Fragen geantwortet (da die Gruppe bis dahin nie live aufgetreten war, rankten sich natürlich Gerüchte um sie – und wie viele andere Gruppen hatten sie nichts dagegen bzw. spielten ein wenig mit der Uneindeutigkeit). Er gab mir aber grünes Licht – das dürfte einer der ersten Artikel über :Zoviet France gewesen sein, in dem sich auch ausgiebig O-Ton fand … (23.3.2020)