Älter werden mit Musik (ämm) – eine Kolumne
1968.
Die Beatles waren nicht nur die erste Supergroup des Pop, sondern auch die Band, die sich wohl am längsten in Auflösung befand – mindestens drei Alben lang dauerte dieser schleichende Prozess der wechselseitigen Entfremdung bis hin zur gegenseitigen öffentlichen Anfeindung der Herren John Lennon und Paul McCartney. Ob dabei die Rollenzuschreibung immer stimmig war – McCartney als der Bravere, Lennon als der Wildere, Experimentierfreudigere? Geschenkt.
Letzthin stolperte ich zufällig am Plattenregal der lokalen Filiale einer Drogeriekette über »Unfinished Music No. 1: Two Virgins« und »Unfinished Music No. 2: Life With The Lions« von John Lennon und Yoko Ono. Die Alben erschienen erstmals Ende 1968 bzw. 1969 und wurden im November 2016 auf Vinyl wiederveröffentlicht, originalgetreu inkl. braunem, gestanzten Packpapier (»Two Virgins«), Einlegern – und Downloadcode inkl. Bonustracks.
Zugegeben: In den knapp 50 Jahren seit der Erstveröffentlichung der beiden Alben haben sich die Maßstäbe, nach denen Musik als »experimentell« oder »avantgardistisch « bezeichnet (und beurteilt) wird, verändert. Was dem geübten Ohr heute wie dilettantisches Homerecording erscheint und selbst mit aktuellem Billigst-Equipment kaum in so einer lausigen Qualität hinzubekommen ist – dafür benötigte man wieder spezielle Plugins, die die Aufnahmequalität eines Kassettenrekorders anno 1968 imitieren müssten –, sorgte beim erstmaligen Erscheinen vermutlich umso mehr für Erstaunen und, gelinde gesagt, Irritation. Der Pop-Superstar auf Abwegen, nachts daheim vor dem Kassettenrekorder zusammen mit seiner neuen Freundin – konzeptionell als eine Art akustisches Tagebuch angelegt, musikalisch am ehesten zu beschreiben, wie es Graham Calkin auf seiner Website mit »Two Virgins« versucht, z. B. auf der ersten Seite:
»Mostly whistling, piano, and guitar strings being hit, and Yoko shrieking. 0-3:30 Whistling (like »Clangers«) and random instrumentation. 4:40 Yoko starts shrieking. 6:12 John can be heard talking. 6:50 Big piano chord, then repetitive single note… over and over. 7:53 John shouts. …«
Graham Calkin
Hier stand offensichtlich mehr der Impetus der Bildenden Künste wie Dada und – natürlich – Fluxus Pate, weniger der technische und ästhetische Status Quo in den Studios für Elektronische Musik in Köln oder Paris. Rückblickend mag das Cover von »Two Virgins« das radikalste Statement an dem Gesamtkunstwerk gewesen sein: Lennon und Ono nackt, einmal von vorne, einmal von hinten fotografiert – auch über dieser Radikalität liegt jedoch der Schatten des Verschämten, Schüchternen eher als der des Revolutionären: Lennon wollte sich nicht nackt vor einem Fotografen zeigen und machte die Aufnahmen selbst, im Keller von Ringo Starr, mit dem Selbstauslöser der Kamera …
Ästhetisch bieten beide Alben heute kaum noch Sensationelles, aber sie versprühen als Zeugnisse vergangener, »wilderer« Zeiten doch einen eigenartigen Charme. Und manches davon taugt auch heute noch als Ausgangsmaterial für Dissidenz: »Unfinished Music No. 2: Life With The Lions« kommt mit dem bekannten Poster »WAR IS OVER! If you want it.« – mittlerweile im Diskurs um lebenswerte Städte umcodiert zu »CAR IS OVER. If you want it.« …
Beide Alben wurden von Secretly Canadian wiederveröffentlicht auf LP/CD – www.secretlycanadian.com
1975.
Brian Eno liegt im Krankenhausbett. Er hat es gerade so geschafft, sich eine Platte mit Harfenmusik aus dem 18. Jhdt. aufzulegen, danach sich wieder ins Bett geschleppt, und muss dort feststellen, dass die Lautstärke viel zu gering eingestellt, die Musik kaum hörbar ist, die Umgebungsgeräusche dafür umso mehr. Eno bleibt liegen und lauscht angestrengt und entwickelt aus dieser Erfahrung heraus –
»This presented what was for me a new way of hearing music — as part of the ambience of the environment just as the color of the light and the sound of the rain were parts of that ambience.«
Brian Eno
– seine Variante der Satieschen »Musique d’ameublement« und nennt sie »Ambient«. Zwar hat er schon im Duo mit Robert Fripp (Gitarre) mit Bandschleifen und Bandecho experimentiert, aber auf »Discreet Music« präsentiert er 1975 zum ersten Mal die Essenz seiner Versuche in dieser Richtung, samt »Operational Diagramm« auf der Coverrückseite, also dem Signalverlauf analog zum Weg, den das Magnettonband zurücklegt. Es folgen weitere Alben, auf denen Eno sein Konzept von Ambient immer weiter entwickelt und perfektioniert. In unregelmäßigen Abständen, zwischen seinen eher songorientierten Arbeiten, seiner Tätigkeit als Produzent für Dritte und diversen Kollaborationen erscheinen auch immer wieder »reine« Ambient-Soloalben.
»Reflection« (Warp, 2017) ist das aktuellste. Es kommt daher wie das gereifte Alterswerk – dunkles Cover mit kaum erkennbarem Portrait des Künstlers als altem Mann und der Erklärung, diese Platte enthalte die Essenz von Enos Ambient-Musik: »Commenting on Reflection, Eno spoke of the recording as the most realised version of his ambient music yet, one without parameters or end.« Ein nettes Experiment wäre vermutlich, einem bisher unbedarften Hörer sämtliche Eno-Ambient-Alben vorzuspielen mit der Bitte, diese sowohl zeitlich als auch qualitativ einzuordnen: Würde »Reflection« tatsächlich als die neueste, am weitesten entwickelte Form erkannt werden?
Brian Eno ist immer wieder für Überraschungen gut – 2014 etwa veröffentlichte er zusammen mit dem Underworld-Mastermind Karl Hyde zwei* überraschend gelungene, durchaus abwechslungsreiche Pop-Alben (wobei böse Zungen behaupten, es zieme sich nicht für Senioren, über »Daddy’s Car« zu singen – auch wenn Hyde hier fast wie der junge Brian Eno klingt …).
* Die genannten Alben heißen »Someday World« und »High Life«
Sein Ambient-Oeuvre scheint mir allerdings weitgehend ausgereift – ihm wohl auch, denn neben den diversen Formaten (mein Tip: DoLP inkl. Downloadcode für WAV/FLAC) wird »Reflection« auch als App veröffentlicht – ein Programm, das »without parameters or end« auf ewig und immer anders vor sich hin läuft (so lange der Akku vom Tablet eben mitspielt). Die 40 Euro, die das Programm kosten soll (es gab ja schon einmal eine interessante Software, »Scape«, die Eno zusammen mit Peter Chilvers 2012 auf das iPad brachte), scheinen mir gut angelegt für denjenigen, der nie wieder eine Eno-Ambient-Platte kaufen will oder muss.
Brian Eno »Reflection« ist auf Warp Records erschienen, siehe warp.net/artists/brian-eno
1977.
Fünf junge Männer aus Bristol sind unzufrieden mit der (nicht nur musikalischen) Entwicklung von Punk, gründen die Band mit dem bis heute stringentesten Namen – The Pop Group – und sorgen vor allem mit ihren Live-Auftritten für Furore. Nach einigen personellen Umbesetzungen und drei Alben später gehen sie ab 1980 getrennte Wege, bleiben aber weiterhin musikalisch aktiv. Kurzfristig den höheren Bekanntheitsgrad erlangten nach der Trennung Bruce Smith und Gareth Sager (sowie Mark Springer und Neneh Cherry, beide zuletzt ebenfalls mit der Pop Group verbandelt) mit Rip, Rig & Panic (drei Alben zwischen 1981 und 1983), längerfristig unter eigenem Namen aktiv war der Sänger Mark Stewart (acht Alben von 1983 bis 2012).
2010 reformierte sich The Pop Group wieder mit vier Original-Mitgliedern (Catsis, Sager, Smith und Stewart), 2014 erschienen mit »Cabinet of Curiosities« eine Sammlung Raritäten aus der ersten Pop Group-Phase sowie mit »Citizen Zombie« ein nagelneues Studioalbum. Vor kurzem wurde noch einmal nachgelegt: »The Boys Whose Head Exploded« versammelt bisher unveröffentlichte Live-Raritäten, wieder aus der ersten Phase, und mit »Honeymoon on Mars« erschien fast 40 Jahre nach der ersten Bandgründung das erst vierte (!) Studioalbum der Band, produziert von Dennis Bovell (der schon das Debut »Y« produzierte) und Hank Shocklee (u.a. Public Enemy).
Es gibt sicherlich erhebliche ästhetische Unterschiede zwischen Pop Group alt und neu – nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass auch der wildeste Dilettant nach 40 Jahren irgendwas dazugelernt haben dürfte (und sich die Studiotechnik wie die Hörgewohnheiten ebenfalls verändert haben). Der scharfe, dynamische Sound von 1977 ist 2014/2016 einem durchaus »fetten« gewichen, wobei das neuere Album noch mehr punktet. Der Sound ist eher stimmig als fett, bietet mehr Raum für unterschiedliche musikalische Idiome – wie schon auf »Citizen Zombie« dominieren auf »Honeymoon on Mars« eher langsame Beats und Grooves: mehr Hiphop/R&B als Punk jedenfalls.
Am ehesten hat sich noch Mark Stewart diese gewisse Unprofessionalität in seinem Gesang bewahrt, während an den anderen Musikern mehrere Jahrzehnte Musizierens nicht ohne eine gewisse, durchaus wohltuende Professionalisierung vorübergegangen sind. Und gerade deshalb ist die neue Pop Group so hörenswert wie die alte, denn geblieben sind die hochpolitischen Texte und die (Gesellschafts-)Kritik – ohne abgeschmackt oder altherrenmäßig daher zu kommen, und schon gar nicht pseudojuvenil. Außerdem finden sich massig Ingredienzen in den Stücken, die den aktuellen Sound der Pop Group immer noch weit weg von jeglicher Mainstream-Lala halten – und »grooven« wollten sie ja schon immer, das beweist der mittlerweile fast vollständig wiederveröffentlichte Backkatalog.
Am schwächsten hierbei ist »The Boys Whose Head Exploded«, eine Zusammenstellung von Liveaufnahmen – die Soundqualität ist hier teilweise schon sehr abenteuerlich, die der CD-Version beiliegende DVD verstärkt den »Beste Reste«-Eindruck: etwa 7 (!) Minuten Footage (»Live At Alexandra Palace 1980«), unprofessionell gefilmt (Video) und zusammenhanglos aneinandergeschnitten. Trotzdem ein Muss für Fans – nicht zuletzt wegen »73 Shadow Street«, einer fast 10-minütigen frühen, magisch-rohen Version von »Liberty City« (später auf Stewarts Debut »Learning to cope with Cowardice« veröffentlicht).
Der gesamte Pop Group-Katalog (bis auf »Y«) ist bei Freaks R Us erschienen, auf CD sowie Vinyl (inkl. Download-Code): www.freaksrus.net (derzeit nicht erreichbar – Discogs)
Ursprünglich erschienen in Bad Alchemy #93, März 2017.
Bad Alchemy Website …