empreintes DIGITALes (plus der nicht-akademische Nachschlach)

Lesedauer ca. 10 Minuten Mein Einstand beim Bad Alchemy Magazin (und überhaupt mein erster veröffentlichter Text?!) – ein Packen CD-Rezensionen, thematisch in zwei Blöcke geteilt. Zu der Zeit war ich als Hörer so weit weg von Melodie und Rhythmus wie nie mehr davor/danach … Erschienen 1992 in Bad Alchemy #19.

Elektroakustische Musik erfreut sich wachsender Beliebtheit; was nun gar nicht heißen soll, daß dieser Musikart endlich die Anerkennung zuteil geworden wäre, die sie seit Jahren verdient hätte: die »E«-Lobby setzt weiterhin auf das -zigste MOZART-/BACH-/etc.-Revival, die CD-Regale der Läden sind zugestopft mit Herbert hier, Karajan dort – und der Erfolg eines NIGEL KENNEDY beweist wieder einmal mehr, dass das »Verrückte«, »Gewagte«, »Andere« nur bei Äußerlichkeiten geduldet wird (=Outfit/Kleidung/Auftreten), die Musikreproduktion und das Ritual, in welches sich der Musiker fügt, jedoch so unantastbar ist und bleibt, wie es seit Jahrzehnten (oder Jahrhunderten) der Fall ist. Aber der dummen (weil einseitigen/bornierten) Auffassung von musikalischer »Könnerschaft« – Instrumentbeherrschung, traditionelle Kompositionstechniken etc. – entzogen und entziehen sich immer mehr Musiker und Komponisten, lassen z. B. ihre Werke von musikalischen Laien aufführen (CAGE, CARDEW) oder aber entwickeln im Ein-Mann-Verfahren Klangwerke, die an Facettenreichtum, Dichte und Tiefe manches 100-köpfige Orchester wie Straßenmusiker klingen lassen.

Das von FRANCOIS BAYLE maßgeblich entwickelte ACOUSMONIUM, ein »Orchester« aus ca. 80 Lautsprechern, stellt nicht nur ein außergewöhnliches klangliches Phänomen dar, sondern ist – gewollt oder nicht – die wahrscheinlich zutreffendste und bissigste Persiflage auf den »klassischen« Orchesterbetrieb (denn sieht man von den wenigen Solisten ab, »dient« der Orchestermusiker lediglich zur exakt festgelegten Reproduktion – eine Aufgabe, die Tonband und Lautsprecher besser, weil zuverlässiger ausführen). Der Musiker, der als Marionette mit unsichtbaren Fäden vom Dirigenten vermittels Taktstock geführt wird, wird ersetzt durch den Lautsprecher, dessen sichtbares Kabel an das Mischpult des Komponisten angeschlossen ist.

Was solche Innovationen betrifft, sind die französischen Komponisten aus dem INA/GRM-Umfeld maßgeblich beteiligt (gewesen); in Deutschland spielte das Studio des WDR in Köln (STOCKHAUSEN, KAGEL etc.) eine ähnliche Rolle, später dann in den USA das MILLS COLLEGE (Veröffentlichungen auf LOVELY MUSIC), in England gibt es das COMPOSERS DESKTOP PROJECT (dem u.a. TREVOR WISHART angehört) bzw. das B.E.A.S.T. (Birmingham Electro-Acoustic Sound Theatre, kleiner und kompakter als das ACOUSMONIUM, aber klanglich nicht weniger sensationell!) – all diesen Komponisten/Bewegungen/Gruppen ist gemein, dass sich Gleichgesinnte in einem oder mehreren nationalen Zentren zusammenschließen, um ihre ganz persönliche Vorstellung von Musik umzusetzen.

In Kanada hat sich ein neues Label die Veröffentlichung zeitgenössischer elektronischer/elektroakustischer Musik zum Programm gemacht: in der Reihe »empreintes DIGITALes« sind bis jetzt sechs CDs erschienen, die sowohl durch die Musik als auch durch klangliche Aufarbeitung derselben und die Fülle an Informationen in den Booklets Maßstäbe setzen. Die Stärke solcher Musik liegt, wie auch bei den INA/GRM-Veröffentlichungen, in der individuellen Wirkung und widersetzt sich den Versuchen, sich in Schemata pressen zu lassen (genauso wenig will sich ja auch der aufgeschlossene Musikkonsument in eine Schublade stecken lassen).

IMED 9001-CD: CALON »Ligne De Vie«


Den elektronischen Reigen eröffnet CHRISTIAN CALON, 1950 in Marseille geboren und Gründungsmitglied der CEC (Communaute Electroacoustique Canadienne). Die CD enthält drei Stücke, wobei mich am meisten das 40-minütige »Minuit« beeindruckt: Hier legt CALON eine Fähigkeit, mit Sprache zu arbeiten/Stimmen zu verarbeiten, an den Tag, die man z. B. bei den Vokalstücken eines STOCKHAUSEN kaum findet. Übrigens würde ich empfehlen, sich das Stück wirklich um Mitternacht bei gedämpftem Licht und passabler Lautstärke anzuhören – mit Sicherheit ein Meisterstück, dem die beiden anderen (»Portrait D’Un Visiteur« und »La Disparition«) in nichts nachstehen.

IMED 9002-CD: NORMANDEAU »Lieux Inouis«


Der 1955 geborene ROBERT NORMANDEAU war Schüler bei FRANCIS DHOMONT (vgl. INA/GRM) und steht, wie auch schon CALON, seinen Lehrmeistern in nichts nach. Die fünf Stücke dieser CD belegen seine Fähigkeit, musique concrete, Stimmen und elektronische Klänge zu einem faszinierenden Kaleidoskop bizarrer »sonic landscapes« zusammenzufügen. »Jeu« basiert auf einem ähnlichen Prinzip wie GUY REIBELs »Variations En Etoile« (INA/GRM 9103re), aber statt vorgefundene Muster zu kopieren setzt NORMANDEAU auf Weiterentwicklung (und scheut sich nicht, bereits »fertiges« Material wie STOCKHAUSENs »Hymnen« zu verarbeiten).

IMED 9003-CD: THIBAULT »Volt«


ALAIN THIBAULT, 1956 geboren, gehört wie CALON zu den Gründungsmitgliedern der CEC und unterrichtete selbst schon an der musikalischen Fakultät der Universität von Montreal. Bei seiner Musik liegt der Schwerpunkt auf MIDI-Technologie, wobei er aber auch weiterhin mit »tapes« arbeitet. Seine Kompositionen sind kürzer und gestraffter – gerade im Vergleich zu CALON – wirken aber nie verstümmelt oder hektisch, auch wenn sie teilweise die Länge von Popsongs haben (wobei THIBAULT schon der Schalk im Nacken sitzt, wenn er ein Stück »E.L.V.I.S.: Electro-Lux Vertige Illimi te Synthetique« betitelt).

IMED 9004-CD: »ELECTRO CLIPS«


Besonders gelungen ist diese Zusammenstellung mit 25 Stücken (à 3 Minuten) von 25 Komponisten/Musikern; überwiegend kanadische Künstler geben einen Einblick in das musikalische Schaffen in dieser Region. Das dicke Booklet, das aus 25 Text-/Fotoblättern besteht, gibt auf jedem Blatt detailiert Auskünfte über den betreffenden Komponisten und über das Musikstück. Neben bekannteren Komponisten nimmt der »zeitgenössische« Nachwuchs den meisten Platz ein. Mit Beiträgen von JOHN OSWALD, FRANCIS DHOMONT, HILDEGARD WESTERKAMP, CHRISTIAN CALON, DANIEL SCHEIDT, GILLES GOBEIL (das Hammerstück mit RENE LUSSIER) …

IMED 9105-CD: SCHEIDT »Action/Reaction«


Der Titel ist Programm: DANIEL SCHEIDT, 1956 geboren und ebenfalls Mitglied der CEC, liefert mit dieser CD ein mustergültiges Beispiel für musikalische Interaktion ab. Seine Kompositionen für Instrumente/Stimme und »interactive software« sind nicht von vorneherein festgelegt, lassen den Duettpartnern (Perkussion, Klarinette bzw. Bass-Klarinette, Stimme und Posaune) Raum, ihre individuellen Vorstellungen zu entfalten, statisch bleibt nur die Software, während die Stücke von einer einzigartigen, faszinierenden Lebendigkeit sind. Elektroakustische Improvisation? Hier versagt jede Schublade.

IMED 9106: DAOUST »Anecdotes«


YVES DAOUST, 1946 geboren und ebenfalls Gründungsmitglied der CEC, legt mit »Anecdotes« den bisher letzten Tonträger in dieser Reihe vor. Die CD besteht aus vier »barocken Suiten« und 4 längeren Kompositionen. Für DAOUST stellt die Anekdote ein besonderes Moment in seiner Musik dar, sei es die Verarbeitung von »particular moment(s) of music history« oder aber das Wiederaufgreifen eigener, älterer Ideen (vor seinem Musikstudium fertigte er auf simplen Kassettenrecordern Soundtracks für befreundete Amateurfilmer). Die Stücke haben oft Filmmusik-Charakter, die CD gehört zu den eingängigeren Veröffentlichungen dieses Labels – was die Musik nicht weniger interessant macht!

Für diejenigen, die in INA/GRM-Produktionen und anderen elektroakustischen Werken mehr sehen als

… das alleräußerste Abenteuer, das am weitesten in Zukunftsspekulationen vorstoßende Unternehmen des »Avantgardismus«: die Umfunktionierung des gesamten bisher im Dienste der abendländischen Musikkultur entwickelten instrumentalen Klangarsenals mittels gewaltsamer Verfremdung ihrer wesensgemäßen Anwendungstechnik zu einem Geräuschpotential, das, ergänzt durch die banalsten Geräuscherzeugungsmittel unserer täglichen Umwelt (beispielsweise: Straßenlärm, Telefonklingel, ja, Klosettspülung!) geeignet sein soll, mit den elektronisch erzeugten Klängen und Geräuschen zu verschmelzen. Selbstverständlich wird gleichzeitig das natürlich gewachsene, aus musikgeistigen Impulsen gewordene, kunstvolle abendländische Tonsystem gänzlich außer Kraft gesetzt, und statt seiner zusätzlich etwa mit unorganischen Klangklumpen (»Clusters«) oder mechanischen, maschinellen Klang- und Geräuschmontageeffekten operiert. Im Grunde handelt es sich um einen Rücksprung über die Geschichte der Musik als Kunst hinweg in das urzeitliche Chaos, in den »Zustand vor der Schöpfung«, …

Zitat aus: WALTER ABENDROTH »Kurze Geschichte der Musik«, dtv 10991

für die seien die obigen CDs nicht zuletzt als Ergänzung zum INA/GRM-Programm empfohlen.

► plus: der NICHTAKADEMISCHE NACHSCHLACH

Dass CHRISTIAN WALTER in BAD ALCHEMY 12 in seinem INA/GRM-Artikel auch :ZOVIET FRANCE erwähnt, ist nur ein Indiz unter vielen, daß neben der zeitgenössischen »elektroakustischen Szene« musikalische Bewegungen/Strömungen bestehen, deren Protagonisten nicht auf z. B. vergleichbare musikalische Ausbildungen wie ein Herr DHOMONT oder THIBAULT verweisen können, deren tönende Endprodukte aber teilwise dem direkten Vergleich mit elektroakustischen Kompositionen standhalten. Auch in diesem Sektor gibt es einige interessante Neuerscheinungen:

if you can’t fix it with a hammer, you know it must be broken

Man kann über ANDREW M. McKENZIE viele Meinungen haben; tatsächlich haben kaum je Tonträger einer Gruppe so viele Kontroversen ausgelöst wie die Veröffentlichungen des HAFLER TRIOs. Optisch immer exquisit gestylt, klanglich meist hervorragend aufbearbeitet, liefern die HAFLER-Produkte neben Sounds, die einschmeichelnd und abstoßend sind, das Ohr betören und im nächsten Moment verletzen, nie aber vorhersehbar sind, Pamphlete, Reden, Geschichten, Aphorismen – Denkanstöße, die zusammen mit dem akustischen Material in ihrer Unverbindlichkeit (der Anstoß ist hier wirklich nur Initialzündung für weitere Gedanken/Aktivitäten des Konsumenten!) oft eine stringentere Wirkung haben als die übrigen Heilsversprechen und Absolutheitsansprüche, die von so vielen Stahlklopfern und Tonbandschnippslern geliefert werden. HAFLER TRIO liefern wichtige (und teils auch überzeugende) Dokumentierungen einer Suche nach möglichen Einflüßen auf das Unterbewußtsein (ohne die Wertungen »gut« und »schlecht«) vermittels Sounds/Geräuschen, die so raffiniert bearbeitet sind, dass sie einen ihre oft banale Herkunft vergessen lassen. Neben zahlreichen Wiederveröffentlichungen älterer Platten und Cassetten gibt es auch einige neue Werke:

THE HAFLER TRIO: »Kill The King«
CD 1991 (STAALPLAAT STCD 13)
THE HAFLER TRIO: »Masturbatorium«
CD 1991 (TOUCH Tone 1)


Für HAFLER-Neulinge dürfte die 17-minütige »Masturbatorium« einen leichten Einstieg ermöglichen, zeigen sich HAFLER TRIO mit diesem Soundtrack zu einer ANNIE SPRINKLE-Show, der sich zum Großteil aus, ähem, Geräuschen der verehrten Dame zusammensetzt, wiewohl auch älteres HAFLER-Material Verwendung findet, von ihrer eingängigeren Seite (man möchte fast sagen: »schöne« Musik).


»Kill The King« hat mit Sicherheit den blöderen Titel: auch hier ist Frau SPRINKLE beteiligt, neben einer Anzahl weiterer Personen, einschließlich JOHN DUNCAN.

Dieser JOHN DUNCAN, von dem ein früheres Werk hier in BAD ALCHEMY bereits (verkaufszahlhemmend!?) abgehandelt worden ist (vgl. BA #6, S.27), war in der letzten Zeit alles andere als faul, und seine aktuellen Veröffentlichungen weisen nicht zuletzt durch diverse Kollaborationen mit McKENZIE eine geistige Nähe zu den HAFLER-Produkten auf.


Als erstes wäre da »Contact« (CD 1990 TOUCH TO:17), ein Gemeinschaftswerk von DUNCAN und McKENZIE, das vom Hörer viel Geduld und von der Stereoanlage eine gute Überlastschutzschaltung fordert.


Interessanter (ich möchte mir die Floskel »genial« ersparen) ist da »Klaar« (CD 1991 EXTREME XCD 006): Die vier Stücke dieser CD sind durchdacht, abwechslungs- und spannungsreich, Ambient-Music jenseits von New Age-Seeligkeit – der Silberling gehört mit Abstand zu den besten Veröffentlichungen der »INDUSTRIAL«-Szene 1991 (die Anführungszeichen werden an einem anderen Ort behandelt werden …).


»Dark Market Broadcast« (CD 1990 STAALPLAAT STCD 08) kommt nicht ganz an die Qualitäten des Nachfolgers »Klaar« heran, weist aber bereits in diese Richtung: die Klänge sind rhythmischer, fordernder angelegt, manches wirkt leicht unausgegoren, aber nie zu roh, zu klobig. Beide CDs ergänzen sich wunderbar (es soll demnächst schon wieder eine neue DUNCAN-CD erscheinen: man darf gespannt sein).


Eher ergänzenden Charakter hat auch die Wiederveröffentlichung der ehedem auf AQM erschienenen LP »Riot« ( vgl. oben): »Riot/Brutal Birthday« ( CD 1991 DARK VINYL DV#6) belegt eher, daß DUNCAN doch um einiges zugelegt hat, diese CD ist eher was für’s Archiv, als daß ich sie mir ständig anhören könnte (was bei »Klaar« hingegen gut möglich ist!) – wobei ich noch darauf hinweisen möchte, dass es vor 1983 (urspr. »Riot«-Veröffentlichung) schon Platten gab, die beim direkten Vergleich »Riot« ziemlich regressiv aussehen lassen. Aber: lieber sind mir diejenigen, die ihr Oeuvre nicht dahingehend beschönigen, indem sie Schwachpunkte in der eigenen Discographie durch Vergriffenheit weglügen (auch wenn der Ökonom in mir lieber neue Veröffentlichungen hören würde, statt Geld und Material in die Wiederveröffentlichung dürftigen alten Materials verschwendet(?) zu sehen).


Ursprünglich erschienen in Bad Alchemy #19, 1992.
Bad Alchemy Website …

Cover Bad Alchemy #19 (Rück- und Vorderseite)

Anm.: Die Rechtschreibung wurde minimal angepasst, und die Abbildungen im Original (siehe Artikelbild oben) wurden gegen Abbildungen der CDs getauscht bzw. ergänzt.
Alle von mir aktuell (2020) gesetzten Links führen zu den entsprechenden Seiten bei Discogs, wo die Veröffentlichungen im Detail beschrieben werden, sich aktuelle Links zu den Label-Webseiten ebenso finden wie teilweise gebrauchte (oder auch neue) Exemplare der vorgestellten Tonträger.