Perfake

Lesedauer ca. 5 Minuten Eine Sammelrezension, die sich musikalischen »Fakes« widmet am Beispiel von Jimi Tenor und Senor Coconut Erschienen im August 2000 in Bad Alchemy #36.

Es scheint, als ob Fake (aus dem Englischen: Schwindel, Fälschung; schwindeln) die derzeit erträglichste und auch ertragreichste Art ist, mit Musik(-kultur) umzugehen – auf Seiten der Musiker, der Hörer und der dazwischen vermittelnden Medien. Auf die wenigen musikalischen Neuerscheinungen, die mich in der letzten Zeit dermassen interessiert haben, dass ich eine Art eisernes Gelübde mehrmals gebrochen und Tonträger erworben habe, bin ich durch die um sie vorherrschende mediale Aufbereitung aufmerksam geworden.
Allen nachgenannten Tonträgern ist gemeinsam, dass sie nicht das Echte suchen oder zelebrieren, sondern aus ihrem in alle möglichen Richtungen, nur nicht penetrant nach vorne gerichteten Blickwinkel heraus von der einen Wahrheit künden: Es gibt nichts Neues.
auch wenn man es tut.

Was ist auch schon dabei, wenn Lieder von dem Stillstand singen, der die Menschen einen nach dem anderen in seinen Bann zieht: der Blick zurück nun nicht mehr im Zorn, sondern voller Wehmut und auch Trauer um die schönen, in der Regel verschwendeten Jahre mit ihren überschaubaren, offenliegenden Koordinaten?

JIMI TENOR können wir ganz und gar nicht böse sein, schließlich verkörpert er – seine schüchterne Mimik hinter der großen Brille und die zerbrechlich wirkende Haltung bezeichnen seine Musik wohl treffender als jedweder Kritiker – die Naivität in der Popmusik wie kein anderer, das ewige Nicht-ernst-genommen-werden-von-den-Großen, obwohl der kleine Streber in der Schule nur Einsen kassiert. Sagt er zumindest seinen Eltern, tatsächlich aber lügt er: er ist der Oberguru des PERFAKE, des perfekten Fake. Das beweist »Out of Nowhere«, sein neuestes Album: gereift unter der Hand von einem, der vom Easy Listening über Elektro/Techno und Disko nun zu Soul und modernem Orchestersound (und nur um Sound kann es gehen bei einem Orchester, das die in ihrer Plattheit kaum zu überbietenden Kopien von Schnipseln von E-Musik mit leidlich Verve herunterspielt) gefunden hat (vgl. SPEX 7-8/2000, S. 66/67).

Zugegeben: die Musik, in der richtigen Stimmung genossen, berührt durch … nein, nicht durch den Varese-Fake, sondern durch den Soul, der von Herzen kommt, wenn auch vom Herzen eines Schwindlers: augenzwinkernd kriecht sie in die Gehörgange, stupst uns den Ellbogen in die Seite und raunt uns zu: hör doch mal, wie das klingt. Der perfekte Witz scheinbar, und dann aber auch wieder nicht so gut gemacht, dass jeder mitlachen könnte, denn manche verstehen den Witz nicht ganz und schreiben (wie ich) allen Ernstes etwas von einem Orchester in die Kritik, als ob das irgendeine Rolle spielen würde, ob da Menschen oder Samples zu hören sind; andere wiederum können zu Recht anführen, dass der musikalische Witz, für sich alleine genommen, sie noch nicht einmal zum Schmunzeln verleiten kann.

Man wird eben älter und übellauniger, 45 UPM sind längst zu schnell; ganz nebenbei ist man erschüttert über die Radikalität von Musik, die vor fast einem Vierteljahrhundert veröffentlicht wurde, und so habe ich unlängst wieder KRAFTWERKs »Schaufensterpuppen« angehört: ein finsterer, apokalyptischer Walzerverschnitt, der erst kürzlich auf lieblichste Weise in einen Cha-Cha-Cha übersetzt wurde von einem gewissen SENOR COCONUT auf dessen LP »El Baile Alemán« (etwa »Der deutsche Tanz«). Das ist allerdings kein Fake mehr, sondern eine ausgebuffte Farce – eine chilenische Combo übersetzt stur diverse Kraftwerkhits in das lokale folkloristische Idiom. Groovt wie Sau, und ist andererseits extrem werkgetreu in seiner Monotonie. Unsere Welt wäre schöner, wenn es so etwas wirklich gäbe, aber so wenig die Existenz dieser Platte angezweifelt werden kann (es gibt sie, also kaufen!), so wenig ist dran an der Geschichte vom Crooner und seiner semiprofessionellen Band. Atom Heart ist’s.

Harter Schnitt. »Wassermaschine« von JAN IWERS und WULF HANDT, eine auf 27 MiniDiscs limitierte Auflage: die Coverbilder (CD-Cover) erinnern an damals, die Kindheit in Deutschland zwischen 1945 und 1980, also an die ersten 170 Jahre unserer Republik. Fotografien von Buntfurnier-Küche, frühem Passat Variant Kombi in dörflicher Kulisse, Pullunder-Paßbild begleiten die rund 20 Minuten »für mutter«. – Mein Gott, ich kann wieder sehen, I C H K A N N W I E D E R S E H E N ! ! !

Nein, ich kann’s einfach nicht mehr hören, diesen originalen Monokassettenrekordersound, die dumpfe Waschmaschinenaufnahme Kaffeemaschinenaufnahme: es kostet heutzutage einiges an Mühe, Aufnahmen mit schlechtem Equipment zu machen, da dieses schwieriger zu finden ist als mittelgutes, jenseits der Amateurqualität einzuordnendes. Es lassen sich keine Argumente pro anführen, es sei denn, man stellt das Ganze irgendwie in einen Kunstkontext. Kunst ist mir aber heute verdächtig, weil sie, wo sie nicht zum Kunsthandwerk geronnen ist, nicht über das Niveau von Design, also Formgebung, hinausgeht. Formgebung aber hängt absolut vom Inhalt ab, d.h. selbst die noch so gelungen wirkende Verpackung ist nur dann tatsächlich als gelungen zu bezeichnen, wenn sie dem Inhalt entspricht. Das findet hier leider nicht statt, der Inhalt (= Klang) ist dermaßen hanebüchen primitiv, daß die Diskrepanz zwischen Schale und Kern das vorliegende 1/27 völlig obsolet macht: für die Welt der Musikhörer ebenso wie der Kunstfreunde (27 Ausnahmen für diese Regel werden sich finden lassen).

Nachtrag TENOR: ebenfalls neu erschienen ist »Heliopause« vom IMPOSTOR ORCHESTRA, und das klingt wie die technoid-elektronische Resteverwertung von »Out Of Nowhere«, »Impostor« heißt »Betrüger« (sic), und das Betrügerorchester wurde von JIMI TENOR produziert. Bei der heute üblichen Nomenklatur für Musikschaffende könnte es sich also ohne weiteres um eine JIMI TENOR-Solo-LP handeln. Das wäre dann seine tatsächlich gelungenste – musikalisch.

Selbst diese Zeilen sind reiner Fake, der Inhalt wurde nur erstellt, um einer angestrebten Form zu ent-


Ursprünglich erschienen in Bad Alchemy #36, August 2000.
Bad Alchemy Website …