KLEINHOLZ (1)

Lesedauer ca. 7 Minuten Soweit ich sehen kann, ist dies meine erste Kolumne, publiziert in Bad Alchemy. Hier Folge 1 von 2 – ein Packen Buchbesprechungen. Das Sortiment halte ich nach wie vor für essenziell, auch wenn es seit Erscheinen nochmal deutlich erweitert gehört – vielleicht ein Anreiz für einen weiteren Teil? Erschienen 1993 in Bad Alchemy #22.

Ja ja, lacht Ihr nur: wir erleben zur Zeit im Musiksektor die Renaissance des geschriebenen Wortes! Wer die aktuelle Diskussion um Jugendkultur, Rechtsrock, HipHop usw. auch nur peripher verfolgt, muss zu dem Schluss kommen, dass hier versucht wird, einer Musik, die sich der billigsten Zitierweise bedient, anhand gesellschaftskritischer Analysen im Nachhinein das Prädikat »Besonders Wertvoll« aufzudrücken (nachdem dieser Versuch über die Schiene »Jazz-Zitat = anspruchsvoll« fehlgeschlagen ist, bemüht man das »Politische«) – ohne die Musik, um die es dabei geht, auch nur ansatzweise in Frage zu stellen. Wurden schon vereinzelt Stimmen laut, dass es bei HipHop durchaus auch die gleichen Ansätze von Sexismus/Rassismus gibt, wie sie uns hierzulande momentan wieder vehement entgegenbranden, so grenzt es schon an Lächerlichkeit, wie jetzt plötzlich auf die bösen »rechten« Jugendlichen geschimpft wird, die dann ausgerechnet »schwarze« Musik hören und ihr »X«-Käppi tragen, während sie zur Hatz rufen auf alles, was nicht aus dem Stegreif 20 deutsche Volkslieder absingen kann. Als ob ein kritisches Bewusstsein sich dauerhaft im 4/4-Takt manifestieren könnte! »Dissidenz« oder Revolution werden nicht aus der mit 30 cm-Basslautsprechern bestückten Autoheckablage geboren, und dumpfes, monotones Wummern kitzelt bestenfalls die Darmwände, für die zerebralen Schnittstellen ist das nichts – und von Turnschuhen kriegt man eh nur Käsfüße!

Deshalb im Folgenden einige Bücher, die einem kein »X« für ein »E« vormachen, sondern Literatur über Musiker/Künstler, die schon längst zu eingangs erwähnter Erkenntnis gelangt sind und schon beim Furzen mehr »poststruktukturalistisch-dekonstruktivistische Hardcore-Dissidenz« an den Tag legen, als es 80 Seiten monatlich erscheinende Musikjournaille je erahnen könnten. Alle Titel – so nicht in Deutschland erschienen – sind in Englisch, und wer nicht zuviel Angst vor der eigenen Courage hat bzw. sein Schulenglisch wieder einmal auffrischen will, der sollte beherzt zugreifen: Anhand der ISBN-Nummern dürfte es keine allzu großen Beschaffungsschwierigkeiten geben. Falls doch, dann wendet Euch an BAD ALCHEMY, wir helfen Euch selbstverständlich weiter!

Den Anfang machen die Klassiker der Underground-Musikliteratur: »TAPE DELAY« (Harrow/UK 1987 – ISBN O946719020) von CHARLES NEAL und das »INDUSTRIAL CULTURE HANDBOOK« (San Francisco/USA 1983, 1990 – ISBN 0-940642-07-7), erschienen im RE/SEARCH-Verlag (der noch einige andere Pretiosen zu bieten hat!). Beide Bücher behandeln einen weit (»TAPE DELAY«) bzw. eng (»INDUSTRIAL CULTURE HANDBOOK«) gefassten »Industrial«-Begriff. Dabei stützt sich das bereits 1983 erschienene amerikanische Buch auf die »Standards« der Industrial-Szene: THROBBING GRISTLE, CABARET VOLTAlRE, SPK, Z’EV, NON, MONTE CAZAZZA u.a., während die Engländer es nicht so genau nehmen und zwar neuere Acts wie THE HAFLER TRIO, MARK STEWART, TEST DEPT. und LAIBACH, durchaus aber auch solche Bands/Musiker wie SWANS, SONIC YOUTH, MARC ALMOND, MATT JOHNSON, NICK CAVE oder NEW ORDER featuren. Beide Bücher sind von hohem informatorischen Wert und durchaus als Standardwerke der Undergroundkultur zu bewerten und somit für jeden, der sich für die Musik abseits von Starschnitt und Autogrammkarte interessiert, eine unerläßliche Pflichtlektüre!

Hier in Deutschland erschien zeitgleich mit »TAPE DELAY« ein Büchlein im Suhrkamp-Verlag: »WHO’S BEEN SLEEPING IN MY BRAIN« (Frankfurt/Main 1987 – ISBN 3-518-11219-8) von JUDITH AMMANN versucht, eine Art verbindende Grundeinstellung bei den Musikern/Künstlern des Undergrounds aufzuzeigen (bzw. auf Unterschiede hinzuweisen). Löblich ist der Parallelabdruck von deutschem und englischem Text, weniger gelungen allerdings die Zerhackstückelung der Interviews in einzelne Phrasen, die den Leser sehr schnell den roten Faden – und die Lust zum Weiterlesen – verlieren läßt. Wer sich dennoch durch das immerhin knappe 500 (kleine) Seiten fassende Taschenbuch arbeitet, erfährt das eine oder andere über THE RESIDENTS, FAD GADGET, DIVINE, MOFUNGO, LYDIA LUNCH, PSYCHIC TV, VIRGIN PRUNES, ALAN VEGA, die MILKSHAKES und andere mehr oder weniger zwingende Combos/Musiker.

Eine nette Lektüre für zwischendurch ist »PARTITUR DER TRÄUME – Über Musik und Klänge« (Tübingen 1990 – ISBN 3-88769-225-X) aus CLAUDIA GEHRKEs Konkursbuchverlag. Hier gibt es als roten Faden nur das Thema »Musik«, in allen möglichen Variationen, und so finden sich MIKIS THEODORAKIS, KLAUS THEWELEIT, JOHN CAGE und die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN in trauter Harmonie nebeneinander, wobei das Interessanteste in diesem Buch der Artikel von CARLA MURECK (»Die Hölle ist da, feiern wir das wärmende Feuer«) ist – auch wenn er ziemlich reisserisch geraten ist …

Das derzeit interessanteste Buch im deutschen Sprachraum zum Thema »andere« Musik ist THOMAS MIESSGANGs »SEMANTICS – Neue Musik im Gespräch« (Hofheim 1991 – ISBN 3-923997-37-X): Der Autor hat sich völlig unverkrampft und ohne akademischen Anspruch aufgemacht, mit den Großen aus Underground, Jazz/Improvisation und Neuer Musik ein Schwätzchen zu halten. Herausgekommen ist kein einfältiges Geplapper, sondern eine gehaltvolle Kommunikation, die nachzuvollziehen der wahre Genuss ist, von der ersten bis zur letzten Zeile. Die Bandbreite der Gesprächspartner reicht von CHRIS CUTLER, TAV FALCO, PETER HAMMILL, HEINER GOEBBELS, JOHN ZORN und DAVID THOMAS über LOL COXHILL, STEVE BERESFORD, PETER BRÖTZMANN und CECIL TAYLOR bis hin zu ROBERT ASHLEY, PIERRE BOULEZ, STEVE REICH, KARLHEINZ STOCKHAUSEN und LUCIANO BERIO, um nur einige zu nennen. Essentielles Buch auf der obersten Qualitätsstufe!

Leider über das Ziel hinausgeschossen ist KLAUS HÜBNERs »LÄRMREISE« (Augsburg 1992 – ISBN 3-926794-12-7), wo dieser versucht, wirklich alles zwischen Urknall und JOHN ZORN abzudecken, über weite Strecken aber nur noch Namedropping liefern und auf schlappen 100 Seiten eigentlich nur scheitern kann. Zuviel gewollt, nichts erreicht. Schade um die vertane Chance!

Dann doch lieber wieder zurück nach Amerika, wo TOM JOHNSON nicht nur selbst eifriger Komponist ist (u.a. »An Hour For Piano«, »Music For 88«), sondern seit gut 20 Jahren regelmäßige Kolumnen in der VILLAGE VOICE verfasst. Die erste Dekade seiner publizistischen Tätigkeit gibt es in der stolze 500 Seiten fassenden Schwarte »THE VOICE OF NEW MUSIC« (Eindhoven/NL 1989 – ISBN 90 71638 09 X) noch einmal nachzulesen, und es macht nicht nur Spaß, »aktuelle« Kritiken zu Aufführungen und Auftritten von STEVE REICH, PHILIP GLASS, YOKO ONO, MEREDITH MONK, JOHN ZORN oder JIM STALEY zu lesen, sondern es ist auch erstaunlich, welchen Weitblick JOHNSON damals in seinen Urteilen zum Großteil an den Tag gelegt hat. Wer sich für ausgefallene und ungewöhnliche Töne aus der »Oberliga« interessiert, kommt an diesem Standardwerk kaum vorbei.

Ein weiteres Standardwerk liegt mit »CASSETTE MYTHOS« (Brooklyn/USA 1992 – ISBN 0-936756-69-1) vor, wo der Mutter aller Underground-Tonträger, der Compact-Cassette, in etlichen Aufsätzen Ehre erwiesen wird. Reichlich illustriert und thematisch vielseitig ist das 200 Seiten starke Buch (Großformat!) auch für die empfehlenswert, die sich Cassetten nur noch fürs Auto aufnehmen.

Wieder erhältlich und neu überarbeitet/illustriert ist CHRIS CUTLERs »FILE UNDER POPULAR« (London 1985/1991 – ISBN 0-946423-04-0). Ob die Thesen darin noch (oder wieder) zeitgemäß sind, sei dahingestellt: CUTLERs Biographie spricht allerdings eher für ihn, war er doch nicht nur Mitglied einer der wahrscheinlich zehn legendärsten Bands aller Zeiten, sondern auch Gründer eines der ersten »Independent«-Labels/Vertriebe, deren Epigonen uns heute den (z.T.) unsäglichsten Mist als »progressiv« und »Gegenkultur« verkaufen wollen.

Zu guter Letzt noch 3 Bücher aus dem Bereich »Medien«, die alle drei gleichermaßen informativ und unterhaltsam sind und deren Anschaffung sich auf Jeden Fall lohnt: WILLIAM FURLONGs »AUDIO ARTS« (Leipzig 1992 – ISBN 3-379-01454-0) beleuchtet die Geschichte dieser Kunstzeitschrift, die größtenteils auf Cassette erschienen ist, und bringt Ausschnitte aus 20 Jahren regen Schaffens und Sammelns von Tondokumenten (Interviews, Lesungen, Pamphlete, Gedichte, Aufsätze etc.); das holländische »BOEK VOOR DE INSTABIELE MEDIA« (’s-Hertogenbosch 1992 – ISBN 90-9004840-5) mit Aufsätzen von G. WHITEHEAD, P. VIRILIO, A. WOLLSCHEID, P. WEIBEL u.a. – Streifzüge durch Cyberspace und Performance/Deformance; und noch GEERT LOVINKs »HÖR ZU – ODER STIRB!« (Berlin 1992 – ISBN 3-89408-402-2), ein kleines aber feines Büchlein über die alternative Radio-Szene Amsterdams.

Wie bitte? Ja doch, dann geht los und kauft Euch den Aufsatzband »NEUE SOUNDTRACKS FÜR DEN VOLKSEMPFÄNGER« (Berlin 1993 – ISBN 3-89408-028-0) oder GÜNTHER JACOBs »AGIT POP« (Berlin 1993 – ISBN 3-89408-027-2) – sind beide ganz ordentlich, aber glaubt ja nicht, dass da alles drin steht!


Ursprünglich erschienen in Bad Alchemy #22, 1993.
Bad Alchemy Website …

Cover Bad Alchemy #22 (Rück- und Vorderseite)

Anm.: Die Rechtschreibung wurde minimal angepasst, und die Abbildungen im Original (siehe Artikelbild oben) wurden weggelassen (war eh nur »beliebige« Illustration).
Links habe ich keine gesetzt, die meisten Bücher dürften vergriffen sein, aber vermutlich noch antiquarisch erhältlich – die Suche lohnt!

Es entbehrt im Rückblick nicht einer gewissen Ironie, dass ich in so einem Text, der quasi nur aus Namedropping besteht, ein Buch dafür kritisiere, dass es quasi nur aus Namedropping besteht … (22.3.2020)