Bonustrack Season 1: »Fünf Platten von Gnag«

Wenn es unter Plattensammlern ein ungeschriebenes Gesetz gab (resp. immer noch gibt), dann: Keine Platten verleihen! Niemals!! Eine Kassettenkopie war schon Gnade genug, mehr als einmal wurde mir sogar diese verwehrt …

… und so war die Freude umso größer, dass mir besagter »Gnag« (den ich auf der Zappa-Alben-Suche kennengelernt und der mir D.D.A.A. nähergebracht hatte) 1988 fünf Platten in die Hand drückte – ein Vertrauensbeweis sondergleichen. Und nicht nur das – diese fünf Platten bildeten so etwas wie eine Seedbomb, die meine Hörgewohnheiten nochmal ganz gehörig durcheinanderwirbelte und mich auf ganz neue Fährten setzte:

The Residents: »Eskimo« (1979)
Ich kannte zu dem Zeitpunkt bereits die Residents, gerade war »God In Three Persons« neu erschienen (gekauft). »Eskimo« stellt sicherlich ein Ausnahme-Album im Oeuvre der Amerikaner dar, aber ich persönlich bevorzuge das collagenhaftere Frühwerk wie auf »The Third Reich ‚N‘ Roll« (1976), während mein ansoluter Favorit immer ihre Version von »Jambalaya« (auf »Stars & Hank Forever!«, 1986) bleiben wird.

This Heat: »This Heat« (1979)
Das Debut der seinerzeit lautesten Band der Welt – wo sie spielten, rieselte verlässlich der Putz von der Decke, wie mir augen- und Ohrenzeug:innen immer wieder versicherten. Der Wechsel zwischen Lärmbrett und leiseren Klängen wird besonders deutlich am Anfang: »Testcard« ist so leise, dass die Justierung der Lautstärke mit diesem Track unweigerlich dazu führt, dass das unmittelbar nachfolgende »Horizontal Hold« von einem panischen Sprung zum Lautstärkeregler begleitet wird, um wieder Zimmerlautstärke zu erreichen … diese erste LP war für viele so ein massiver Einfluss, dass vier junge Männer, darunter ich, 1993/94 ein Musikperiodikum namens »Testcard« gründeten …

This Heat: »Deceit« (1981)
Die zweite und letzte Studio-LP ist deutlich song-orientierter, ohne dass das stören würde. Auch hier Energie pur, aber viel textlastiger als der Vorgänger. Beide LPs zusammen vermitteln erst ein ganzheitliches Bild der Band und verweisen schon ein wenig auf den hochenergischen Pop/Rock der Nachfolgeband The Camberwell Now, deren Platten ebenfalls jede Sammlung aufwerten.

The Raincoats: »Odyshape« (1981)
Eine all-female-Band mit einem ganz eigenartigen, leicht träumerischen Pop/Rock, hier unterstützt vom This Heat/Camberwell Now-Drummer Charles Hayward und mit Gastauftritt der Rock-Ikone Robert Wyatt.

Mark Stewart + Maffia: »Learning To Cope With Cowardice« (1983)
(M)Ein Jahrhundertalbum – wer mich kennt, mag sich gewundert haben, dass diese Platte nicht gleich als erste erwähnt wurde … im Buch »Damaged Goods« habe ich ihr 2016 mein persönliches Denkmal gesetzt. Essenziell, am besten gleich im Verbund mit »The Lost Tapes« nehmen, den bisher unveröffentlichten Demos und Outtakes: Kein Füllmaterial, sondern der Beweis, wie grandios die ursprüngliche Veröffentlichung war (und wie groß der Mut, einige Stücke in ihrer extrem bearbeiteten/verzerrten Version draufzupacken).


Ich trauere keinen »guten alten Zeiten« hinterher, auch wenn mein Beharren auf physikalischen Tonträgern etwas anachronistisch erscheinen mag. Was ich aber wirklich vermisse, das sind die Gespräche und Empfehlungen, die Sammler:innen untereinander führten oder austauschten – schon mit Aufkommen der CD war ein echter Niedergang zu beobachten bei der Bereitschaft, einfach mal gemeinsam ein Album durchzuhören oder wenigstens eine Plattenseite (ca. 20 Minuten). Stattdessen permanentes Zappen mit der CD-Fernbedienung, oft schon vor Ende des Stückes – eigentlich absurd: Je mehr die Tonträger fassten, je (vermeintlich) besser sie klangen, um so geringer die Bereitschaft, ein Album einfach laufen zu lassen. Wobei sich in den 1990ern die CD-Neuerscheinungen (im Pop) trotz ihrer Länge und Kontinuität (kein Umdrehen nötig) im Gegenzug immer mehr zu Sammlungen von 2–3 Hits plus Füllmaterial wandelten.

Mit »Gnag« war das, wie mit einigen wenigen anderen, anders: Wir trafen uns ein paar Mal bei ihm, und er spielte mir Platten vor, teilte die spärlichen Informationen, die sich ihm damals abseits der Tonträger boten – das meiste nur Hörensagen, denn wer hatte schon all die obskuren Fanzines, die in Kleinstauflagen für die Verbreitung solchen Wissens unverzichtbar waren? Keine Möglichkeit, mal eben schnell einen Suchbegriff einzugeben und ein paar Basics abzuklopfen – stattdessen Mythen und Fake-News überall. Mit etwas Glück konnte die lokale Buchhandlung solche essenziellen Info-Sammlungen wie Judith Ammanns »Who‘s Been Sleeping In My Brain« oder Charles Neals »Tape Delay« besorgen – damit ging ich ins Gespräch mit einem Freund, der dann wiederum auf Karl Lippegaus‘ »Die Stille Im Kopf« verwies …

… und ich habe noch nicht einmal die Mixtapes erwähnt, die kursierten: Zusammenstellungen der Lieblingsstücke für den besten Freund, die beste Freundin, die große Liebe, für den Auftakt eines Gesprächs: Handverlesen, akribisch aufgenommen (»Hast Du Dolby C«?), mit handbeschrifteten oder -gemalten Beizetteln, möglicherweise noch exotisch verpackt … Doch all das ist lange vorbei: Heute werden Playlists getauscht, aus denen sich jede/r dann etwas herauspicken kann, Konto beim entsprechenden Dienst vorausgesetzt. Zwei Mausklicks, und fertig ist das Paket mit Musik für Stunden oder Tage, während früher Stunden und Tage investiert wurden, um mühsam zweimal 45 Minuten zusammenzustellen, denen frau im Lauf der Zeit jeden Abspielvorgang (oder das Liegenlassen auf dem Auto-Armaturenbrett im Sommer) anhörte.

Nein, ich trauere keinen »guten alten Zeiten« hinterher.